Diskussion

Auf dieser Seite werden wir in unregelmäßigen Abständen Diskussionsbeiträge zum zivilen Kartellrecht einstellen.

Schienenkartell V – Der deutsche private attorney general?

Von Prof. Dr. Rüdiger Lahme, Vorsitzender des C-L-F,
Hamburg, den 4. Dezember 2020

Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat heute sein 5. Urteil in Sachen Schienenkartell (KZR 4/19 vom 23-09-2020) veröffentlicht. Die Entscheidung könnte das Potential für einen Paradigmenwechsel im Kartelldeliktsrecht haben.

Oberflächlich hat der Kartellsenat dem pass-on Einwand aus Rechtsgründen („unbillige Entlastung“ des Schädigers im Sinne des Vorteilsausgleichs) eine Absage erteilt, wenn die nachgelagerte Marktstufe so zersplittert ist (hier: Verbraucher), dass eine Geltendmachung eventuell weitergereichter Schäden praktisch nicht zu erwarten sei (Leitsatz 2).

Wichtiger könnte aber sein, was der Kartellsenat damit zugleich sagt: der Kläger darf im konkreten Fall Schäden geltend machen, die ihn möglicherweise nicht mehr im vollen Umfang treffen. Das erscheint ein Verstoß gegen das Bereicherungsverbot zu sein. Der Geschädigte soll nach deutschem Schadensrecht allenfalls für erlittene Schäden kompensiert, aber nicht bessergestellt werden.

Das gilt für den Kartellschadensersatz nun offenbar nicht mehr uneingeschränkt. Der Kartellsenat stellt klar, dass der Kartellschadensersatz nicht nur der Kompensation diene, sondern zugleich das öffentliche Interesse an der Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs wahre:

Allerdings erschöpft sich [der Zweck des kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs] nicht in dieser kompensatorischen Funktion. Er ist vielmehr integraler Bestandteil des Systems zur effektiven Durchsetzung kartellrechtlicher Verbotstatbestände und ergänzt die behördliche Durchsetzung dieser Vorschriften. Vor diesem Hintergrund ist […] das öffentliche Interesse an der Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs zu berücksichtigen.

BGH Schienenkartell V, KZR 4/19, Rn. 50.

Und es sei der Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs nicht dienlich, wenn ein Kartellbeteiligter „die Früchte [seines] rechtswidrigen Verhaltens […] behalten könnte.“ (a.a.O.) Daher soll offenbar akzeptiert werden, dass der Kläger möglicherweise überkompensiert wird. Dies soll zumindest dann gelten, wenn dem Kartellbeteiligten keine doppelte Inanspruchnahme droht.

Anders klang es noch in ORWI (KZR 75/10, Rn. 29), als es zum pass-on hieß:

Das Interesse an einer Stärkung der privatrechtlichen Kartellrechtsdurchsetzung rechtfertigt es nicht […] im Widerspruch zur Kompensationsfunktion des Schadensersatzrechts denjenigen Ansprüche zuzubilligen, die wirtschaftlich keinen dauerhaften Schaden erlitten haben.“

BGH ORWI, KZR 75/10, Rn. 29

Mit dieser großzügigen Behandlung möchte der Kartellsenat offenbar honorieren, dass der private Kläger nicht nur im eigenen Interesse agiert, sondern zugleich die Interessen der Allgemeinheit vertritt. In Rn. 58 spricht der Kartellsenat davon, dass ohne diese Besserstellung des Klägers „die Durchsetzung der Wettbewerbsregeln mit Mitteln des Privatrechts erheblich geschwächt“ würde.

Denn dem Primärgeschädigten würde angesichts des Prozessrisikos und der damit verbundenen Kostenlast ein wesentlicher Anreiz genommen, überhaupt Ansprüche gegen die Kartellbeteiligten zu erheben. Dies wiegt besonders schwer, wenn der Primärgeschädigte – wie hier – am ehesten über die Informationen verfügt, die für die Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs erforderlich sind, und die Erhebung und Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen wegen fehlender Anreize gleichzeitig von niemandem außer ihm zu erwarten ist.

BGH Schienenkartell V, KZR 4/19, Rn. 58.

In den USA ist die Incentivierung des privaten Klägers, der als „Funktionär der Rechtsordnung“ Klagen im öffentlichen Interesse erhebt, als „private attorney general“ bekannt. In Deutschland wurde dieser Gedanken bislang weitgehend abgelehnt.

Passt dieser Gedanke in die deutsche Rechtsordnung oder näheren wir uns damit zu sehr dem Strafschadensersatz an?